Rede von Sevim Dagdelen
zum Gedenktag der Opfer des Faschismus
am 12.09.2010 auf dem Friedhof Freigrafendamm in Bochum
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Freundinnen und Freunde!
71 Jahre nach dem Überfall Nazideutschlands auf Polen und 65 Jahre nach der Befreiung Deutschlands und Europas vom Faschismus finden wir uns hier und heute zum Tag der Opfer des Faschismus ein. In Erinnerung an die Toten und aus Respekt für die Überlebenden bitte ich Sie/Euch um eine Schweigeminute zum Gedenken an die ermordeten KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und gefallenen Partisaninnen und Partisanen, Soldatinnen und Soldaten der alliierten Streitkräfte und Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern zu widmen.
—- Gedenkminute —-
Danke.
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Freundinnen und Freunde!
Als die Jahrestage der Ermordung Ernst Thälmanns (18. August 1944 im KZ Buchenwald), Rudolf Breitscheids (24. August 1944 im KZ Buchenwald) und der Widerstandskämpfer des 20. Juli bevorstanden, ergriffen 1945 ehemalige politische Häftlinge die Initiative zur Begründung eines Gedenktages für die Opfer des Faschismus. Unterstützung kam von den neu zugelassenen antifaschistisch-demokratischen Parteien, den Kirchen, Gewerkschaften und Jugendausschüssen.
Es ging bei der Ehrung insbesondere um jene, die aktiv im antifaschistischen Widerstandskampf ihr Leben gegeben haben. Und zwar um alle! Deutlich wird dies an den teilnehmenden Mitgliedern verschiedener Widerstandsbewegungen als Redner 1946. Darunter waren aus dem christlichen Widerstand – Werner Haberthür, von der Widerstandsgruppe Europäische Union – Prof. Robert Havemann, vom Kreisauer Kreis – Gräfin Marion Yorck von Wartenburg, von der Anton-Saefkow-Gruppe – Änne Saefkow, von der Beppo-Römer-Gruppe – Erich Wichmann, von der Heinz-Kapelle-Gruppe – Erich Ziegler, von der Roten Kapelle Ruthild Hahne. Nicht vergessen will ich Ottomar Geschke, der von 1947 bis 1953 Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) war. Unter seinem Vorsitz gehört die VVN 1947 erstmals zu den Trägern des Gedenktages.
Zentrales Anliegen war also gerade auch das Gedenken an diejenigen, die sich der Nazidiktatur mutig entgegengestellt haben. Dies zu betonen ist in heutiger Zeit notwendiger denn je. Denn heute spielt nur noch am Rande eine Rolle, dass der deutsche Faschismus nicht von innen heraus besiegt werden konnte; dass es zu wenige waren, die unter Einsatz ihres Lebens mutig gegen die Nazibarbarei kämpften. Und dass die wenigen antifaschistischen Widerstandskämpfer überwiegend aus der kommunistischen, sozialistischen und anarchistischen Arbeiterbewegung kamen.
Das soll gezielt aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt werden. Ein Aktuelles Beispiel ist die Beseitigung der Thälmann-Gedenkstätte in Ziegenhals bei Berlin.
Ein anderes hochaktuelles Beispiel ist der revisionistische Vorstoß der Präsidentin des revanchistischen Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die sich auf der Klausurtagung des CDU-CSU-Fraktionsvorstandes hinter die stellvertretenden Mitglieder des Stiftungsrats der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, Hartmut Saenger (CDU) und Arnold Tölg (CDU) stellte und die Schuld der Deutschen am 2. Weltkrieg in Frage stellte, indem sie erklärte, es stimme, dass Polen zuerst mobil gemacht habe.
Von den zahlreichen Straßenumbenennungen der letzten 20 Jahre in den östlichen Bundesländern ganz zu schweigen.
Insbesondere eine relativierende Gedenkstättenpolitik stellt immer dreister Opfer der Nazis mit denen der DDR auf eine Stufe.
Es geht dabei um die „Schuld“ der von den Nazis Überfallenen und der Befreier. Es geht um die Diskreditierung ihres Kampfes für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Krieg – ganz im Sinne des Schwurs von Buchenwald: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Diskreditierung deshalb, da für die meisten antifaschistischen Widerstandskämpfer dieser Kampf eng mit dem Kampf gegen Kapitalismus und Militarismus verbunden war.
Und so wundert es nicht, dass stattdessen heute der militärische Widerstand um den Kreisauer Kreis bzw. den 20. Juli faktisch als einzig legitimer und sinnvoller Widerstand dargestellt wird. Dient doch heute die Berufung auf den militärischen Widerstand zunehmend der Selbstbeweihräucherung der Bundeswehr und ihrer Beteiligung an Kriegen. Während Deutschland seine imperialistischen Ambitionen mit Hilfe der Bundeswehr absichert, versuchen bürgerliche Politiker/innen und natürlich die Militärs die Akzeptanz des Militärischen im Inneren zu verbessern.
Die Zunahme der Präsenz der Bundeswehr in der Öffentlichkeit – wie durch öffentliche Gelöbnisse in vielen Städten, durch Messebeteiligungen und Rekrutierungsveranstaltungen in Arbeitsämtern und sogar in Schulen – ist nicht zufällig. Kein Zufall ist es auch, dass an Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen militärische Belange ein größeres Gewicht bekommen. Das gilt von der Materialforschung für verbesserte militärische Ausrüstung und Technik bis zu einem ganzen Studiengang „Military Studies“ an der Uni Potsdam, der gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr betrieben wird. Es gibt ganze Veranstaltungsreihen, die die Bundeswehr an Universitäten tragen. Mit 18 Universitäten kooperieren die Jugendoffiziere der Bundeswehr.
Ein anderes Stichwort lautet „Zivil-Militärische-Zusammenarbeit“. Darunter ist zu verstehen, dass im „Krisenfall“ – im Ausland wie im Inland – verschiedene Organisationen, also Polizei, Technisches Hilfswerk, Feuerwehr, Rettungsdienste eng mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, letztlich de facto unter militärisches Kommando gestellt werden. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Denn es geht hierbei weniger um Naturkatastrophen. Die Münchner Sicherheitskonferenz, der G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, der NATO-Gipfel 2009 oder andere Großereignisse haben gezeigt, dass da mehr an soziale Unruhen gedacht wird, bei denen die Akzeptanz bisher noch verfassungswidriger Bundeswehreinsätze im Inneren schleichend durchgesetzt wird.
Das alles verwundert kaum!
Seit dem NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999 soll die Bundeswehr in diversen Ländern der Welt vermeintlich deutsche Interessen durchsetzen und sichern. Die Bundeswehr ist in Afghanistan, Usbekistan, Bosnien-Herzegowina, im Golf von Aden, im Mittelmeer und im Libanon, in Somalia, Uganda und dem Kongo präsent, sie bildet Militär-, Gendarmerie- und Polizeikräfte von Lateinamerika über Westafrika, Zentralafrika, Ostafrika und den Jemen, über den Balkan bis nach Zentralasien aus. Sie ist vorwiegend an den wichtigsten Routen des Welthandels und in den rohstoffreichsten Gebieten der Erde anzutreffen.
Und erinnern wir uns: es war die damalige rot-grüne Bundesregierung, die humanitären Vorwände vorschob, damit Deutschland erstmals nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus in den Krieg ziehen konnte. VorwänRde, die sich später allesamt als Lügen herausstellten. Vergessen wir aber auch nicht die Politikerinnen und Politiker, die, wie der damalige deutsche Außenminister Fischer von den Grünen, zur Rechtfertigung von Militäreinsätzen in der Welt, stets neue „Hitlers“ und „Auschwitz“ entdecken. Das sogenannte „Weißbuch der Bundeswehr“ hat das Ziel militärischer Interventionen Deutschlands recht klar umrissen: die Sicherung des ungehinderten Zugangs zu Rohstoffen und Märkten in aller Welt für das deutsche Kapital durch die Bundeswehr.
Natürlich ist Deutschland nicht allein. Alle imperialistischen Länder versuchen ihre wirtschaftlichen Interessen immer häufiger auch militärisch durchzusetzen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation waren noch vor allem „Strukturanpassungsprogramme“ von IWF und Weltbank mittels derer durch ökonomische Erpressung der Zugang zu fremden Märkten erzwungen wurde. Die militärische Intervention fungierte noch eher als Drohpotential. Heute ist der direkte Einsatz militärischer Mittel zum Dauerzustand geworden.
Die Konkurrenz zwischen den Mächten nimmt natürlich mit der Krise zu. Die alten Mächte möchten den Aufstieg neuer wie China, Indien, aber auch Brasilien, Venezuela und Iran um jeden Preis verhindern. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst beunruhigend, dass fast alle dieser alten und neuen Mächte gegenwärtig ihre Flotten an einer der wichtigsten Meerengen der Welt, dem Golf von Aden und um die arabische Halbinsel herum konzentriert haben.
Wir wissen alle aus der Geschichte, dass der Kapitalismus in der Krise meist Krieg hervorbringt. Denn die Rüstungsproduktion ist wie eine staatliche Lizenz zum Gelddrucken. Und Krieg ist die Krönung des Rüstungsgeschäfts. Insofern gibt es ein Eigeninteresse von Rüstungsunternehmen und Schwerindustrie, dass ihre Waffen auch eingesetzt werden bzw. dass durch Kriege eine erhöhte Nachfrage generiert wird.
Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Freundinnen und Freunde!
Wo die Krise marschiert, marschiert auch die Repression, die Militarisierung, die Aufrüstung und der Krieg. Und gleichzeitig marschiert der Nazi-Mob auf der Straße, rassistisches und nationalistisches Denken gewinnt in der Mitte der Gesellschaft an Boden – wie wir seit Wochen durch die Thesen eine Bundesvorstands und SPD-Mitglieds, Thilo Sarrazin, erleben – und legt das Fundament für die Akzeptanz von Kolonialismus und Krieg. Denn so wie Krieg und Kapitalismus, so gehören auch Kapitalismus und Sozialdarwinismus zusammen.
Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verdammt ihre Individuen zur Konkurrenz gegen einander, und macht sie gleichzeitig zu Komplizen im weltweiten Hauen und Stechen der Standorte. Mit ungleichen Mitteln wird um den gesellschaftlichen Reichtum konkurriert: um Ausbildungsplätze und um Lohn, um Lebenschancen gemeinhin. Kaschiert wird dies durch die Illusionen eines nationalen Kollektivs oder Volkskörpers und neuer Lebensräume und Absatzmärkte. Ideologisch findet der Faschismus hier seinen geistigen Nährboden. Denn die Nazis radikalisieren letztlich nur die kapitalistische Logik und nutzen sie im Sinne einer imaginären völkischen Schicksalsgemeinschaft. Aus der staatlichen Diskriminierung von Menschen nach Herkunft und Nutzen gemäß der Logik der Standortkonkurrenz folgt „Deutsche zuerst!“.
Derzeit werden die sich mit der Krise verschärfenden Klassengegensätze mit den demokratieüblichen Instrumentarien und Repressionen bewältigt. Doch wir wissen, dass historische Krisen durch Aufrüstung, Kriege, Zerschlagung des Widerstandes oder Faschismus versucht wurden zu lösen.
Für mich gilt deshalb: Der antimilitaristische sowie antifaschistische Kampf muss sich gerade auch gegen die indirekte und direkte Durchsetzung von Kapitalinteressen richten, sonst kann er die eigentlichen Kriegsursachen nicht angehen. Und die liegen in der Frage der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums. Eine gerechte Verteilung wird nicht nur militärisch verhindert, sondern steht auch der allumfassenden Konkurrenzgesellschaft entgegen, die der Kapitalismus darstellt.
Eine grundsätzlich friedliche Entwicklung ist aus meiner Sicht erst nach der Überwindung des Kapitalismus möglich! Und dafür haben die meisten antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer ihr Leben eingesetzt. Nutzen wir unsere Möglichkeiten, die wir dank ihres Einsatzes bekommen haben.
Danke!
weitere Hintergrundinformationen:
Termin:
- Diesjährige Gedenkveranstaltung für die von den Nazis ermordeten Antifaschisten am 12. September 2010 auf dem Bochumer Hauptfriedhof
- Gedenkveranstaltung für die von den Nazis ermordeten Antifaschisten am 13. September 2009 auf dem Bochumer Hauptfriedhof
Rede:
- Diesjährige Rede zum Gedenken für die von den Nazis ermordeten Antifaschisten am 12. September 2010 auf dem Bochumer Hauptfriedhof von Sevim Dagdelen, MdB
- Rede zum Gedenken für die von den Nazis ermordeten Antifaschisten am 13. September 2009 auf dem Bochumer Hauptfriedhof
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