Hubert Schneider: Leben nach dem Überleben.
Juden in Bochum nach 1945
70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus beschäftigt sich zum 1. Mal eine umfangreiche Studie mit einem lange Zeit nach 1945 gern tot geschwiegenen Thema: „Leben nach dem Überleben: Juden in Bochum nach 1945, Berlin 2014“. Autor ist der Bochumer Historiker Dr. Hubert Schneider, der auch für die VVN-BdA Bochum etliche Male schon referiert hat.
Obwohl mir manches auch aus Schneiders zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen schon bekannt war, ist diese kompakte Zusammenfassend dennoch äußerst erhellend und dringend empfehlenswert.
Alle Schwerpunkte und Probleme der über 450 Seiten können hier nicht erwähnt werden. Besonders beeindruckt hat mich, wie in Bochum (durchaus stellvertretend – wie Schneider mehrmals betont – für die damaligen Westzonen und spätere BRD) fast widerwillig mit dem Problem „Wiedergutmachung“ umgegangen wurde. Meist nur sehr schleppend wurden Ansprüche auf „Wiedergutmachung“ bearbeitet und zogen sich oft über viele Jahre hin, in denen die Überlebenden immer wieder an ihre schrecklichen Erlebnisse erinnert wurden. Oft genug wurde von den Wiedergutmachungsbehörden ihnen und ihren Schilderungen mit großem Misstrauen begegnet. Die Verfahren zogen sich oft über mehrere Instanzen hin, waren oft übersät mit bürokratischen Hürden Für die Antragsteller waren sie mühsam, kränkend und deprimierend. Statt die vorhandenen Gesetze und Bestimmungen großzügig zu interpretieren, wurde oft genug kleinlich und äußerst restriktiv gehandelt. Das stellte eine kaum vorstellbare physische und psychische Zumutung für die Antragsteller dar.
Sicher hatte es etwas damit zu tun, dass der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung von vielen Deutschen aufgerechnet wurde mit den Leiden im Krieg, denen man selbst ausgesetzt war. Alle wurden so zu Opfern. Warum sollte es einigen Opfern durch Wiedergutmachung besser ergehen?
Schneider zitiert zahlreiche Berichte über einen weiter bestehenden latenten und manifesten Antisemitismus. Im Jüdischen Gemeindeblatt wird über die „Rechtsströmung“ immer wieder geklagt. Im März 1948 wurde von diesem Blatt prognostiziert, dass nach der Entlassung aller SS- und Partei-Inhaftierten, denen nicht direkt individuell Verbrechen nachgewiesen konnten, diese Nazis bald in die vom Alliierten Kontrollrat erlassenen Direktive zur Einordnung von Faschisten der Gruppe V (Entlastete) zugerechnet werden würden. Wir wissen aus zahlreichen anderen Untersuchungen: Nazis wurden reihenweise auch in Gerichtsverfahren durch Richter, die ihre Karriere im Faschismus als treue Staatsdiener begonnen hatten, freigesprochen. Sie brachten oft eine Menge Entlastungszeugen mit, während die jüdischen Opfer kaum Zeugen vorweisen konnten, die für sie noch hätten aussagen können. Siegbert Vollmann, der erste Vorsitzende der jungen „neuen“, „zweiten“ jüdischen Gemeinde in Bochum (im Sommer 1945 noch 4 statt wie vor dem Faschismus ca. 1200 Mitglieder, 1947 dann 55), schreibt in einem Brief im September 1947: „Viel Gutes ist nicht (aus Bochum – W.D.) zu berichten. Wir haben uns andere Vorstellungen gemacht, wie sich das Leben im neuen Deutschland für uns entwickeln wird und sind sehr enttäuscht. Mit der Demokratie geht es genau so, wie 1919 bis 1933; es sind dieselben Leute in den ersten Stellen, wie vor 1945, nur haben sie das Mäntelchen anders gehängt….“ (Schneider, S. 25)
Im Prozess zur Synagogenbrandstiftung in Bochum wurde der Brandstifter nicht gefunden, obwohl alle Bochumer Nazi-Größen 1938 am Tatort dabei waren. Der NSDAP-Kreisleiter Riemenschneider verstieg sich im Prozess gar zu der Behauptung, er sei gegen die Brandstiftung gewesen.
Der „deutsche“ Ruf nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit begann praktisch kurz nach dem 8.5.1945. Kein Wunder, dass im Jüdischen Gemeindeblatt intensiv diskutiert wurde, warum überlebende Juden eigentlich in diesem Deutschland bleiben sollten, in dem sie schon wieder u.a. von den Nachbarn als Juden diskriminiert wurden!
Die Personen, die nun die Wiedergutmachung betreiben sollten, waren oft genug identisch mit denen, die ein paar Jahre vorher den Raub am jüdischen Eigentum und andere Grausamkeiten geleitet hatten. “Die jüdischen Verfolgten trafen nicht nur auf die ehemaligen Ariseure…., sondern meist auf ein Netzwerk von Nutznießern, die bereits an der Arisierung in den verschiedensten Funktionen beteiligt gewesen waren. Letztere hatten als Makler, Notare, Rechtsanwälte, Gutachter, Treuhänder oder in einer sonstigen Rolle hiervon profitiert.“ (Schneider, S. 72) Die systematische Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung wurde oft nachträglich als legal erklärt. „Die früheren Ariseure durften ihre Beute behalten.“ (aaO, S. 73) Z.T. wurde im NS-Jargon und mit antisemitischen Stereotypen gegen die jüdischen Opfer polemisiert. Dass etliche dieser „ versehen mit Wunden aller Art“ Gezeichneten (so Moritz David, langjähriger Rabbiner der „alten“ jüdischen Gemeinde) den Kampf um ihr Recht resigniert aufgaben, scheint verständlich.
Erschwerend kam hinzu, dass auch scheinbar unbelastete Mitglieder in den Wiedergutmachungsausschüssen sich höchstwahrscheinlich während der Verfahren um Wiedergutmachung durch Betrug noch einmal an den Opfern bereicherten. Solche Fälle werden von Schneider auch für Bochum berichtet. Mitglieder der Verfolgten des Naziregimes (VVN) waren in allen Gremien in der Minderheit.
Schneider schildert an 60 Biographien der Mitglieder der jüdischen Nachkriegsgemeinde Bochums, wie es diesen Menschen vor, während und nach dem Faschismus ergangen ist. (Hier sollten in einer Neuauflage die wenigen, für Leser_innen mit Englischkenntnissen leicht zu verstehenden, englischen Texte übersetzt werden für Menschen, die eventuell kein Englisch verstehen). Alle Biographien sind erschütternde Dokumente. Wie sehr ehemalige rassisch Verfolgte traumatisiert waren, erkennt man daran, dass sie z.B. gegenüber ihren Kindern meist nie über ihre grauenhaften Erlebnisse gesprochen haben. Alfred Salomon hat 50 Jahre lang geschwiegen. Der „rote Faden“, der sich durch alle Biographien zieht, sind „Wunden aller Art“. Es handelt sich in den meisten Biographien um Menschen, die in „Mischehen“ zusammengelebt haben und die dem Druck der Faschisten, sich doch scheiden zu lassen von dem jeweiligen jüdischen Partner, standgehalten haben oder die einvernehmlich, um sich und den Partner und/oder gemeinsame Kinder zu entlasten, sich aus „taktischen“ Gründen formal haben scheiden lassen, um gegebenenfalls unter günstigeren Bedingungen nach dem Faschismus die Ehe fortzusetzen und die Scheidung rückgängig zu machen. Es ist hier nicht der Platz, Schneiders Exkurs 1 über „Mischehen, Mischlinge und jüdisch Versippte in der Definition der Nationalsozialisten“ zu referieren. Nur so viel: Lange Zeit (bis September 1944) waren die jüdischen Partner in Mischehen und „Halbjuden“, meist die Kinder, vor den schlimmsten Verfolgungen verschont, weil der faschistische Staat sich noch die Loyalität des „arischen“ Partners sichern wollte. Welchen tatsächlichen Anfeindungen durch Nachbarn, Behörden, Schulen, Vermietern die gesamte Familie dennoch seit 1933 ausgesetzt war, wird in den Biographien immer wieder erschreckend deutlich. Allein die permanenten Aufforderungen, sich vom jüdischen Partner scheiden zu lassen, die Lohnkürzungen, die Kürzungen der Lebensmittelkarten, eventuell der Wohnungsverlust, der Verlust des Arbeitsplatzes wegen des jüdischen Partners, Berufsverbote, die Diskriminierung der („halbjüdischen“) Kinder auch durch andere Kinder, die Verweigerung von Schulbildung und Berufsausbildung für die Kinder, das Verbot für den jüdischen Partner bei Bombenangriffen den Bunker aufzusuchen, muss fürchterlich gewesen sein. Im September 1944 sind dann die jüdischen Partner verhaftet worden und in Zwangsarbeiterlager gebracht worden, im Oktober folgten die nichtjüdischen, „jüdisch versippten“, Partner.
In zahlreichen Biographien wird die Ignoranz und Arroganz der Ausschüsse für „Wiedergutmachung“ beschrieben. Die in meinen Augen unmenschliche Feilscherei der Ämter um Unterstützungen z.B. für Doris Backhaus ist einfach widerlich! (S.172ff) Mit ihrer Mutter kommt die Zehnjährige, die 1934 geboren zahlreiche Diskriminierungen als „Judenkind“ („Halbjüdin“) durchgemacht hat, immer als Ausgegrenzte gelebt hat, 1944 mit ihrer Mutter in ein KZ-ähnliches Arbeitslager, schläft dort in einem bombardierten Gebäude in einem Raum ohne Licht und Luft auf fauligem Stroh mit Flöhen, Wanzen, sonstigem Ungeziefer.Und das alles führt zu schlimmen physischen und psychischen Erkrankungen. Der Amtsarzt bescheinigte allerdings, dass „man“ auch unter normalen Bedingungen diese Krankheiten bekommen könne und es dauert Jahre, bis geringfügige „Wiedergutmachungen“ für Mutter und Tochter durchgesetzt werden können. Aber Doris Backhaus ist keineswegs ein Einzelfall.
An vielen Beispielen zeigt Schneider auf, dass auch der nichtjüdische Ehepartner und die gemeinsamen Kinder seit 1933 ein Leben in Angst, Unsicherheit, Gestapo-Überwachung und behördlichen Schikanen führten. Eigentlich müsste also auch dieser Ehepartner als rassisch Verfolgter anerkannt werden. Das gelang aber nur in wenigen Fällen problemlos. Zumeist wurde um diese Anerkennung und entsprechende „Wiedergutmachungen“ ein z.T. jahrzehntelanger Kampf durch –zig Instanzen geführt. Dem Leser kommt der Gedanke: Wollte „man“ bewusst die Antragsteller zur Resignation treiben oder wartete „man“ gar auf deren Tod? Viele der Antragsteller waren alt, krank, ausgebrannt, erschöpft, mit vielen „Wunden aller Art“ versehen. Schneider: „Es gab (…) Zurückgekehrte, die das nicht aushielten und Bochum, Deutschland doch noch verließen.“ (S. 207)
Es entsetzt den Leser, dass auch monatelange Inhaftierung aus rassischen Gründen nicht anerkannt wurde, wenn nicht mindestens 180 Tage nachgewiesen werden konnten oder dass Flucht und Untertauchen irgendwohin, um der Inhaftierung mit vielleicht tödlichen Folgen zu entgehen, auch zur Ablehnung einer „Wiedergutmachung“ führten – „man“ war ja nicht 180 Tage mindestens in Haft gewesen (z.B. Heinz-Günther Herz und Hannelore Herz).
Ich kann Hubert Schneider nur danken, so exakt und umfangreich das Leben nach dem Überleben in Bochum dargestellt zu haben. Damit wird nicht nur eine wichtige lokalhistorische Forschung zu dieser Zeit geleistet, sondern, da Bochum überall in Deutschland war, ein aufklärender Baustein für die Geschichte der Westzonen bzw. der jungen Bundesrepublik und deren Umgang mit dem Faschismus geliefert.