„Zwangssterilisation im Faschismus“
Die Täter sprechen sich frei und machen weiter
Fast 2 Stunden lang trug Dr. Burkhard Wiebel seine Forschungen und Erfahrungen
zum Thema „Zwangssterilisation im Faschismus“ vor und diskutierte mit den
Anwesenden.
Er erörtere die „wissenschaft-
lichen“ Voraussetzungen für die
Einmaligkeit der faschistischen
Verbrechen: Mindestens 400.000
zwangssterilisierte Menschen,
5000 Frauen und 500 Männer
starben direkt als Folge der
körperlichen Verstümmelungen,
alle litten nachher an den
seelischen und geistigen
schwersten Verletzungen. Alles
ideologisch vorbereitet lange vor
1933! Das heißt nicht, dass hier
irgendwelche monströsen
Verbrechen relativiert werden
sollen!
„Nicht die Nazis haben die Ärzte gebraucht, sondern die Ärzte die Nazis“, urteilte später Ernst Klee. Das gilt ebenso für die deutschen Psychiater. Mit der Machtübertragung an die Faschisten konnten sie endlich ihre „Ausmerzungspolitik“ beginnen. Biopolitik,
Bevölkerungspolitik, Eugenik, Rassenhygiene setzten sich staatlich gefördert durch.
Vergleiche mit heutigen kapitalistischen Kosten-Nutzen-Berechnungen etwa
hinsichtlich von Flüchtlingen drängen sich geradezu auf. Sarrazin und die alten und
neuen Parteien mit z.T. neofaschistischen Programmen haben eine lange Ahnenliste.
Die psychiatrischen und medizinischen Verbrecher von 1933 bis 1945 setzten ihre
Karrieren in der jungen Bundesrepublik fort. Sie distanzierten sich verbal vom
Faschismus, betrieben aber weiterhin nicht nur in der Bundesrepublik bis 1974 und in
vielen Ländern bis heute eine Politik der Eugenik und Rassenhygiene. 1974 erst wurde
das „Erbgesundheitsgesetz“ außer Kraft gesetzt. Das bedeutete aber nicht, dass nun die
Zwangssterilisierten oder die Kinder und Angehörigen der euphemistisch so genannten
Euthanasie oder die Zwangssterilisierten eine Entschädigung erhielten – sofern solche
Verbrechen entschädigt werden können. Dazu hätten die „Opfer“ als rassisch Verfolgte
anerkannt werden müssen. Da aber eine große Zahl von Menschen auch nach 1945 in
der BRD zwangssterilisiert worden ist, hätte „man“ ja anerkennen müssen, dass die
Gesetze von vor 1945 weiter bestanden haben, Psychiatrie und Medizin weiter nach
diesen Gesetzen „legal“ ihrem Verstümmelungswerk nachgegangen wären und dann
hätten Entschädigungen in ungeahnter Höhe gezahlt werden müssen. Also wurden die
„Opfer“ aus der Zeit 1933 bis 1945 nur als Menschen eingestuft, denen „sonstiges“
Unrecht geschehen war.
Burkhard Wiebel beschrieb auch anschaulich seine Marburger wissenschaftliche
Herkunft. Dort lehrte Prof. Dr. Hermann Stutte, der im Faschismus praktisch an allen
Verbrechen („Euthanasie“, Zwangssterilisation“) beteiligt war und nach 1945 immer
wieder betonte, dass manche Menschen eben mit genetischen Defekten geboren worden
sind und „die Gemeinschaft“ ein Recht auf deren Erziehung hat, sprich: Um die leeren
Heime, in denen die ermordeten „Geisteskranken“ u.a. gelebt hatten, wieder profitabel
arbeiten zu lassen, Nonnen, Diakonissen, Pfleger, Ärzte, Diakone, auch Pfarrer und
Priester dort zu beschäftigen, wurden nach „wissenschaftlichen“ Ratschlägen von
Stutte u.a. alle möglichen Kinder den Eltern, vor allem auch allein erziehenden
Müttern (damals sowieso ein riesiger moralischer Makel) weggenommen und in die
Heime gesteckt. Dort wurden sie den altbekannten Foltern, Gewaltmaßnahmen,
Vergewaltigungen unterworfen. Stutte, sein Kollege Villinger u.a. definierten auch
1961 für den Bundestag, dass sie 1. keine faschistischen Verbrechen begangen hätten
und 2. dass alles, was heute läuft, Recht und Ordnung und den schwer oder gar nicht
erziehbaren Kindern diene!
Ein Teilnehmer wies darauf hin,
dass ja z.B. am Gesundheitsamt
Bochum 1933/34 schon begonnen
wurde, ein Rasse-Archiv der
Bevölkerung Bochums anzulegen
(reichsweit geschah natürlich
dasselbe). Systematisch wurden
Daten über „Erbkrankheiten“,
„Rasse“, usw. gesammelt (vgl.
Günter Gleising, Es begann 1933,
in: Antifaschistische Bochumer
Blätter, 2/2012, auf dieser
Homepage mit einigen Klicks
nachzulesen).
Da waren –zigtausende mit
beschäftigt. Alle konnten wissen, wozu die Nazis diese Daten brauchten, weil ihnen das ja vorgeführt wurde. Alle
konnten eigentlich alles wissen und viele machten begeistert mit. Dr. Wiebel schätzt,
dass bis zum Ende des Jahres sich nur 2-3 % der Frauen und Männer melden, die als
Kinder in Heimen in der Bundesrepublik als „behindert“ oder „geistig schwach“
vergewaltigt oder sonst wie sexuell missbraucht worden sind.
Seine Aufgabe als Therapeut besteht nicht darin, gefolterte und sexuell missbrauchte
ehemalige Heimkinder aus BRD-Anstalten immer wieder die Gewalterfahrungen
durcharbeiten zu lassen, sondern heute um ihre Recht zumindest auf
Wiedergutmachung zu kämpfen. Das schaffe ein lebens-notwendiges Selbstbewusstsein,
wenn es klappt. Und „man“ muss der Öffentlichkeit vermitteln, dass es fast keine
genetische Vorherbestimmung gibt, sondern dass der Lebenslauf eines Kindes mit der
Zeugung beginnt: Wird das Kind erwünscht oder abgelehnt? Wird es im Bauch der
Mutter schon in Gedanke, Worten und Werken zärtlich behandelt? Erlebt es nach der
Geburt wirklich Liebe?
Da die Zeit zu kurz war, konnte nicht mehr erörtert werden, dass es ja einen
„Leistungsrassismus“ gibt, der aus der kapitalistischen Ökonomie herrührt, der bis
heute ungebrochen gilt! „Lebenswert“ ist der, der in etwa der durchschnittlich
gesellschaftlich intakten Arbeitskraft entspricht – alle anderen sind „überflüssig“,
„kosten nur Geld“, „fallen uns Steuerzahler_innen auf die Tasche“ und sind längst von
der kapitalistischen Wirtschaft aussortiert. Diese Form von Rassismus gibt es, seit es
den Kapitalismus als herrschende Wirtschaftsform gibt. Ernst Bloch hat einmal gesagt,
dass auch Wissenschaftler bewusst oder unbewusst die Gedanken der Herrschenden
legitimieren, weil sie Teil eines Wissenschaftsapparates sind, deren Hauptaufgabe die
Legitimierung des Kapitalverhältnisses ist. Die wenigen Wissenschaftler, die anders
denken, können dann wie Wiebel i.d.R. keine Hochschulkarriere machen, bekommen
eventuell Berufsverbot oder werden sonst wie von den Herrschenden diskriminiert.